Es ist 7 Uhr morgens. Mein Wecker klingelt sanft, aber mich durchzuckt der Ton wie ein Stromschlag. Mein Herz rast, mein Kopf ist sofort voller Gedanken. Ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln. Neben mir dreht sich jemand um, murmelt etwas und steht mühelos auf. Ich beneide ihn..
Die Welt ist ein Chaos – und ich stehe mittendrin
Während andere scheinbar mühelos in den Tag starten, fühle ich mich schon am Morgen erschöpft: Es ist dieser endlose Marathon, der jeden Tag neu startet. Schon das grelle Licht im Badezimmer, verursacht mir beinah körperliche Schmerzen. Es ist keine schlechte Laune, aber die Radionachrichten, Werbung schlagen sich auf meine Stimmung. mein Gedanken schweifen in die Kindheit: Schon damals habe ich diese dunklen, trostlose „Morgenrituale“ gehasst, war „hochempfindlich“ und brauchte Ruhe, Frieden und ein freundliches Umfeld, um gut in den Tag zu starten.
Zurück in der Gegenwart, merke ich, wie sich viele Geräusche „übereinander legen“ und zu einer Kakophonie anschwellen: das Plappern im Radio, die Kaffeemaschine, der tropfende Wasserhahn, das unzufriedene Mauzen der Katze, die gefüttert werden will. Ein wildes Durcheinander von Tönen, Stimmen und Signalen, die morgens noch schwerer zu ertragen sind. Hinzu kommen noch tausend parallele Gedanken über das Gestern, Heute und Morgen.
Während jemand anderes einen hektischen Morgen abspult, als wäre es Routine, ist mein System bereits nach dem Frühstück auf Hochleistung gelaufen, was viel zu viel Energie kostet. Und das ist erst der Start!
Mein Gehirn ist wie ein Hochleistungsprozessor, der ALLES wahrnimmt. Multitasking! Der Kopf ist nie wirklich „leer“, es gibt immer Gedanken. Es läuft vieles gleichzeitig ab: die Wahrnehmung der Umgebung mit ihren Geräuschen, Farben, Gerüchen, körperliche Empfindungen. Auch Stimmung oder Atmosphäre des Umfelds sind irgendwie immer präsent. Alles gleichzeitig mit dem, was eigentlich zu tun ist.
Für weniger sensible Menschen ist das nur Hintergrundrauschen, für mich ist es eine Lawine von Reizen, die mich „überflutet“ – Reizüberföutung! Das ist nicht keine Ausnahme, das ist Alltag!
Hochsensibilität ist keine Schwäche – sondern ein anderes Betriebssystem!
Viele glauben, hochsensible Menschen (Highly Sensitive Persons = HSP) seien einfach „nur“ empfindlich oder nicht belastbar.
Die Wahrheit ist: Unser Nervensystem funktioniert schlicht anders. Neurologische Studien zeigen, dass die Amygdala – das Zentrum für Emotionen und Stressverarbeitung – bei HSP deutlich aktiver ist. Gleichzeitig gibt es eine verstärkte Konnektivität in jenen Gehirnarealen, die für tiefes Nachdenken, Reflexion und emotionale Verarbeitung zuständig sind.
Das bedeutet:
- Ich nehme Reize intensiver wahr – Licht, Geräusche, Gerüche, sogar Stimmungen anderer Menschen – oder „übernehmen“ sie sogar, so wie ein Schwamm die Tinte aufnimmt in die er getaucht wird..
- Mein Gehirn verarbeitet all das tiefer, intensiver und gründlicher.
- Ich brauche viel mehr Zeit, um diese Flut an Informationen zu verdauen „Vergieß das doch einfach!“ Das ist kein guter Tipp, denn er funktioniert bei mir nicht. Ich bin nicht gut im verdrängen, bin gewissenhaft und überlege mein Handeln; ich durchdenke auch die Reaktionen anderer und bin nicht gut im Vergessen.
Während jemand anderes einen hektischen Morgen abspult, als wäre es Routine, ist mein System bereits nach dem Frühstück auf Hochleistung gelaufen. Ich bin nicht schwach – ich bin detailreicher verdrahtet.
„Dann gewöhn dich doch dran“ – Ein großer Denkfehler!
Ein Satz, den ich früher oft hörte: „Du musst dich einfach abhärten.“ Klingt logisch, oder? Doch das ist so, als würdest du sagen: „Trainier deine Augen, dann blendet dich die Sonne nicht mehr.“ Hochsensibilität ist keine Angewohnheit, sondern Teil der biologischen Ausstattung.
Mein Nervensystem funktioniert anders – nicht schlechter, nicht besser – sondern eben anders. Ein weniger sensibler Mensch braucht nach einem hektischen Arbeitstag vielleicht nur eine halbe Stunde Ruhe, um sich zu erholen. Ich brauche länger, weil mein System mehr verarbeitet hat. Das bedeutet nicht, dass ich weniger leistungsfähig bin – es bedeutet nur, dass ich meine Ressourcen klug einteilen muss.
Warum Hochsensible oft unterschätzt werden
Ein weiteres Missverständnis: HSP sind nicht belastbar. Tatsächlich können hochsensible Menschen extrem leistungsfähig sein – aber nur, wenn sie die richtigen Bedingungen haben. Da unser Gehirn tiefer verarbeitet, sind wir oft besonders kreativ, empathisch und analytisch stark. Wir sind diejenigen, die Verbindungen sehen, die andere übersehen. Wir spüren Stimmungen in Gesprächen, bevor sie jemand ausspricht. Wir denken tiefer, reflektieren mehr – und genau das macht uns in vielen Bereichen wertvoll.
Die Schwierigkeit liegt darin, dass unsere Gesellschaft auf Dauerstress ausgerichtet ist. Diejenigen, die durchhalten, ohne nachzudenken, gelten als belastbar. Doch wahre Belastbarkeit ist nicht nur die Fähigkeit, Stress auszuhalten – sondern auch die Fähigkeit, mit den eigenen Ressourcen bewusst umzugehen.
Ein Abend voller Erholung – endlich runterfahren
Nach einem Tag voller Eindrücke zieht es mich nach Hause. Ich brauche Stille. Keine Events, kein Gespräche, kein Freizeitstress, kein Smalltalk, kein grelles Licht. Vielleicht etwas gutes zum essen oder trinken – in wohltuender Atmosphäre. Natur und Luft. Schön ein geliebtes Wesen: Mensch oder Tier, das Ruhe vermittelt. Diese Pausen sind keine Schwäche – es ist meine Art, aufzutanken.
Jemand, der weniger sensibel ist, versteht das oft nicht. „Du hast doch gar nicht so viel gemacht, warum bist du so erschöpft?“ Weil mein System anders funktioniert und alles intensiver aufnehme. Es ist so, wie mit 240 km/h auf der Autobahn unterwegs zu sein: alles fliegt an mir vorbei. Zu schnell, um die ganzen Eindrücke zu verarbeiten, angespannt und immer bereit zu reagieren. In diesem Tempo kommt man zwar schnell voran, aber eben nicht entspannt. Das Erlebte „klingt“ nach, braucht viel Zeit verarbeitet zu werden. Hochsensibilität bedeutet einfach: anders wahrzunehmen und zu verarbeiten!
Hochsensibilität ist keine Störung, keine Krankheit und kein Problem, das man „lösen“ muss! Sie ist eine Gabe – mit Herausforderungen. Wenn wir lernen, diese Stärken zu nutzen, unsere Grenzen zu respektieren, können wir nicht nur leistungsfähig, sondern auch erfolgreich sein.

Häufig gestellte Fragen zum Thema: Leben mit Hochsensibilität
Wie äußert sich Hochsensibilität im Alltag?
Im Alltag kann sich Hochsensibilität durch eine erhöhte Anfälligkeit für Reizüberflutung, eine tiefe emotionale Reaktion auf positive und negative Ereignisse, eine ausgeprägte Empathie und ein stärkeres Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug zeigen.
Warum fühlen sich hochsensible Menschen oft überfordert?
Die verstärkte Reizverarbeitung kann zu einer schnellen Überlastung führen, da hochsensible Menschen mehr Informationen aufnehmen und verarbeiten müssen als andere.
Wie können sich hochsensible Menschen schützen?
Es ist wichtig, Ruheinseln zu schaffen, Stressoren zu minimieren, Grenzen zu setzen (Nein sagen), und Strategien zur Stressbewältigung zu entwickeln.
Ist Hochsensibilität eine Krankheit?
Nein, Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern eine angeborene Eigenschaft. Allerdings kann sie in Verbindung mit psychischen Erkrankungen auftreten.
Wie können nicht-hochsensible Menschen hochsensible Personen besser verstehen?
Indem sie ihre erhöhte Reizempfindlichkeit und ihr Ruhebedürfnis akzeptieren und respektieren.
Titelfoto: Caleb Woods via Unsplash
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